Web 2.0  06.03.2014

Weltfremde Zensur nach Selbstmord gefordert

Der Blogging-Dienst Tumblr muss sich in Großbritannien heftige Kritik von Jugendschützern und Behörden gefallen lassen. Die britischen Zensurwünsche schlagen einmal mehr über die Stränge.

Hintergrund ist ein kürzlich publik gewordener tragischer Todesfall eines 15-jährigen Mädchens, der die Diskussion um Jugendschutz- und Verantwortlichkeitsfragen im Zusammenhang mit derartigen Online-Portalen neu entflammt hat.

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Der Teenager hatte zuvor immer wieder Fotos von sich auf der Seite veröffentlicht, die zeigten, wie sie sich selbst verletzt. Nachdem niemand eingeschritten war und andere User sie sogar noch dazu aufgefordert hatten, sich weiteren Schaden zuzufügen, nahm sie sich schließlich das Leben.

'Meine Tochter war in einer extrem gefährlichen digitalen Welt gefangen', zitiert BBC News Sarah Wilson, die Mutter der verstorbenen 15-Jährigen. Diese habe vor ihrem selbst gewählten Freitod eine ganze Reihe von Bildern auf Tumblr gepostet, die sie etwa mit Schnittwunden zeigten, die sie sich selbst zugefügt hatte.

'Auch andere Mädchen haben dort von sich ähnliche Fotos hineingestellt und sogar noch die Verletzungen, die sie sich selbst zugefügt haben, miteinander verglichen', kritisiert Wilson, die nun sowohl Politik als auch Seitenbetreiber dazu auffordert, strengere Richtlinien für die Content-Kontrolle in sozialen Netzwerken zu implementieren.


Freiheit als hohes Gut in Gefahr In England kommt immer häufiger eine Tendenz auf, die im Sinne des Jugendschutzes oder Datenschutzes Grundfreiheiten angreifen will. Statt Eltern in die Aufsichtspflicht zu nehmen oder Schulen Medienkompetenz lernen zu lassen greift man Freiheiten an, die unsere Gesellschaft erst hart erkämpfen musste. Zuletzt war das auf der Insel auch hinsichtlich der Zensur im Erotikbereich überbordend, im Bereich des Datenschutzes geht es hingegen vorwiegend der Wirtschaft an den Kragen. Das Augenmaß scheint im Königreich abhanden gekommen zu sein.

Dass der Selbstmord von Tallulah Wilson, so der Name des jüngsten Opfers, tatsächlich kein Einzelfall zu sein scheint, zeigen auch die Schilderungen anderer Tumblr-User, die die Plattform mittlerweile verlassen haben. So wird etwa eine 20-jährige Studentin der Nottingham University zitiert, die den Blogging-Dienst lange Zeit anonym nutzte, um sich und ihren Drang zur Selbstverstümmelung im Schoße der Internet-Community auszuleben.

'Die Leute haben einen geradezu dazu ermutigt, sich weiter zu verletzen', schildert sie die Problematik. Einige hätten zudem auch angekündigt, sich selbst etwas antun zu wollen. 'Ich habe viele Menschen kennengelernt, die dort Ähnliches auf ihren Bildern präsentiert haben', stellt die ehemalige Seitennutzerin klar, die nach einer Überdosis nur knapp mit dem Leben davon kam.

Zensurwünsche

'Tumblr ist stark darum bemüht, die Freiheit der Meinungsäußerung seiner User zu schützen', heißt es in einer Reaktion des Konzerns. Wenn es darum ginge, schadhaften Content zu identifizieren, werde allerdings eine klare Grenze gezogen. 'Es gibt einige Kategorien von Beiträgen, die wir als schädlich ansehen, dazu gehören auch Blogs, die Selbstverstümmelungen zur Schau stellen und befürworten', betont das Unternehmen. Nutzer könnten derartiges Material jederzeit dem Seitenbetreiber melden, um es entfernen zu lassen.

Aus der Sicht von Jugendschützern und Behörden ist das als Schutzmaßnahme aber nicht ausreichend. Diese fordern nun, dass böswillige Inhalte schon kontrolliert und notfalls auch entfernt werden, bevor sie im Web zu sehen sind und dort womöglich weiteren Schaden anrichten können. Sie fordern also Zensur im klassischen Sinn. Der nächste Schritt wäre dann wohl, diese auch noch Behörden direkt zu ermöglichen - auch das war ja schon einmal im Gespräch...

pte/red


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#Zensur #England #Social Media #Tumblr #Jugendschutz

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