14.12.2001

Das Weihnachtsland

Im letzten Hause des Dorfes, gerade dort, wo schon der große Wald anfängt, wohnte eine arme Witwe mit ihren zwei Kindern Werner und Anna. Das wenige, das in ihrem Garten und auf dem kleinen Ackerstück wuchs, die Milch, die ihre einzige Ziege gab, und das geringe Geld, das sie durch ihre Arbeit erwarb, reichten gerade hin, um die kleine Familie zu ernähren, und auch die Kinder durften nicht feiern, sondern mußten solche Arbeit leisten, wie sie in ihren Kräften stand. Sie taten das auch willig und gern und betrachteten diese Tätigkeit als ein Vergnügen, zumal sie dabei den herrlichen Wald nach allen Richtungen durchstreifen konnten.

Im Frühling sammelten sie die goldenen Schlüsselblumen und die blauen Anemonen zum Verkauf in der Stadt und später die Maiglöckchen, die mit süßem Duft aus den mit welkem Laub bedeckten Hügelabhängen des Buchenwaldes emporwuchsen. Dann war auch der Waldmeister da mit seinen niedlichen Bäumchen, die gepflückt werden mußten, ehe sich die zierlichen weißen Blümchen hervortaten, damit seine Kraft und Würze fein in ihm verbleibe. Sie wanden zierliche Kränze daraus, denen noch, wenn sie schon vertrocknet waren, ein süßer Waldesduft entströmte, oder banden ihn in kleine Büschel, die die vornehmen Stadtleute in den Wein taten, auf daß ihm die taufrische Würze des jungen Frühlings zuteil werde.

Später schimmerten dann die Erdbeeren rot unter dem niedrigen Kraut hervor, und während nun die Kinder der reicheren Eltern in den Wald liefen und fröhlich an der reichbesetzten Sommertafel schmausten oder höchstens zur Kurzweil ein Beerensträußlein pflückten, um es der Mutter mitzubringen, saßen Werner und Anna und sammelten fleißig 'die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen'. Aber sie waren fröhlich dabei und guter Dinge, pflückten um die Wette und sangen dazu.


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Heinrich Seidel


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